Die Anfal-Operationen 1988

Unter dem Code-Wort "Anfal" - Titel einer Koransure und wörtlich übersetzt "Beute" - führte das irakische Ba'ath-Regime 1988 eine groß angelegte Militäroperation gegen vor allem ländliche kurdische Gebiete im Norden des Irak durch. In wenigen Monaten wurden Tausende kurdischer Dörfer zerstört; die Bevölkerung wurde zusammengetrieben, junge Männer und Frauen von ihren Familien getrennt, an die 182 000 von ihnen wurden verschleppt und kehrten nie zurück. Das individuelle Schicksal der meisten ist nach wie vor ungeklärt.
Frauen mit Kindern und ältere Menschen wurden monatelang inhaftiert und gequält; in den berüchtigten Gefängnissen Dibs und Nugra Salman im Südirak starben täglich Dutzende Menschen an Hunger und Erschöpfung. Im September 1988 wurden die Überlebenden "amnestiert" und in Umsiedlungslagern unter irakischer Militärkontrolle angesiedelt.

Straße im ehemaligen Umsiedlungslager Sumud, heute Rizgari
 

Über-Leben nach Anfal

Ehemaliges Umsiedlungslager Sumud, heute Rizgari Nach der de-facto-Autonomie der kurdischen Region 1991 wurden viele der während Anfal zerstörten Dörfer wiederaufgebaut. Zahlreiche Überlebende aber, vor allem die große Gruppe allein stehender Frauen mit Kindern, blieben in den Umsiedlungslagern und verharrten viele Jahre in Ungewissheit über das Schicksal ihrer verschwundenen Angehörigen und in prekären ökonomischen und sozialen Lebenssituationen. Ihr Leid nach der erlittenen Gewalt wurde verstärkt und verlängert durch die Ungewissheit über das Schicksal ihrer verschleppten Angehörigen und durch ökonomische Not, fehlenden Zugang zu Bildung und sozialen Diensten, einen unklaren rechtlichen und sozialen Status und ein patriarchales und traditionelles Umfeld, das keinen Lebensentwurf für Frauen ohne Männer vorsieht und sie an der Entwicklung neuer Perspektiven hinderte.

Trotz aller Widrigkeiten entwickelten Anfal überlebende Frauen enorme Energien, verrichteten alle Arten von harter Arbeit, um zu überleben und ihre oft zahlreichen Kinder ohne männliche und gesellschaftliche Unterstützung großzuziehen. Ihre wichtigste Ressource waren dabei ihr kollektiv geteiltes Leid und ihre starken solidarischen Strukturen als Gruppe überlebender Frauen.

Erst seit dem Sturz des Ba'ath-Regimes 2003 hat sich die Situation der Anfal-Überlebenden verändert. Zwar wurde erst ein Bruchteil der mehr als 300 Massengräber im Irak untersucht; aber Gewissheit über den Tod ihrer Angehörigen, Sicherheit vor dem Aggressor, erste Schritte zur Bestrafung der Täter, die politische Stabilisierung und der ökonomische Aufschwung in der Region haben ihre Lebenssituationen und ihre psychosoziale Situation erheblich verbessert. Die kurdische Regierung gewährte ihnen Renten und Häuser und investierte in die Infrastruktur der Germian-Region. Heute rekonstruieren Anfal überlebende Frauen zusammen mit der inzwischen herangewachsenen jungen Generation von Überlebenden ihre familiären und sozialen Strukturen.

Dorf in der Germian-Region

Mit dem Ende von Ungewissheit und Überlebenskampf entdecken sie ihre Stärken und ihren Überlebensstolz und artikulieren ihre politischen Forderungen an die kurdische Regionalregierung, die irakische Regierung und die internationale Öffentlichkeit:


Das Erbe des Ba'ath-Regimes

Die anhaltende Gewalt im Irak und die zunehmende Fragmentierung der irakischen Gesellschaft behindern einen Prozess der Vergangenheitsbewältigung auf regionaler und nationaler Ebene. Für alle politischen und ethnisch-nationalen Fraktionen im Irak spielen vergangene und aktuell erlittene Gewalt eine große Rolle bei der Legitimation nationaler Machtansprüche.
Opfer vergangener und heutiger Gewalt werden gegeneinander ausgespielt, instrumentalisiert und unzureichend unterstützt. Überlebendende von Gewalt und Angehörige Ermordeter und Verschwundener im gesamten Irak fühlen sich marginalisiert und vom aktuellen politischen Prozess ausgeschlossen. Das Ausbleiben einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit trägt weiter zu einer Vertiefung der ethnisch-religiösen Konflikte im Irak bei.

Anonyme Beisetzung von 187 Anfal-Opfern, Rizgari, April 2009


Der kurdisch-nationale Opferdiskurs

In Kurdistan-Irak sind die Anfal-Operationen als "kollektives Trauma" zentraler Bezugspunkt der nationalen kurdischen Identität und der Forderung nach Selbstbestimmung, Teilhabe an der nationalen Macht und internationalem Schutz. Anfal überlebende Frauen werden dabei als passive Opfer und nationale Trauer-Symbole repräsentiert.
Gedenkfeier 25 Jahre Anfal
Ihre konkreten Erfahrungen und Forderungen bleiben aus der öffentlichen Debatte weitgehend ausgeschlossen, ebenso ihre starken solidarischen kollektiven Strukturen, die ihnen geholfen haben, während und nach Anfal zu überleben.

In diesem Kontext ist die Initiative Anfal überlebender Frauen für ein Erinnerungsforum in Rizgari die bisher einzige von Frauen getragene Selbsthilfegruppe, die sich für eine stärkere gesellschaftliche und politische Partizipation Anfal Überlebender einsetzt.



Enfal - Ein Film von Haukari e.V. 2006





Weiterführende Links zu Anfal und dem Aufarbeitungsprozess

Karin Mlodoch: "We Want to be Remembered as Strong Women, Not as Shepherds": Women Anfal Survivors in Kurdistan-Iraq Struggling for Agency and Acknowledgement in: Journal of Middle Eastern Women's Studies, Volume 8, Number 1 (Winter 2012) (gegen Bezahlung)

Karin Mlodoch: "Vergangenheitsbewältigung im Irak" - aus: Politik und Zeitgeschichte, 9/2011, 28.02.2011